Aktuelles

Jean Laplanche ist gestorben – Nachruf von Udo Hock

Jean Laplanche (21. Juni 1924 bis 6. Mai 2012)

Am Sonntag, den 6. Mai, ist Jean Laplanche, einer der bekanntesten Psychoanalytiker Frankreichs, im Alter von 87 Jahren an den Folgen einer Lungenfibrose gestorben. Er war einer der letzten noch lebenden Intellektuellen Frankreichs, die im Umfeld des Strukturalismus groß geworden sind: mit Claude Lévi-Strauss in der Ethnologie, Louis Althusser in der Philosophie sowie Jacques Lacan in der Psychoanalyse. Weltberühmt wurde er insbesondere durch das zusammen mit Jean-Bertrand Pontalis verfasste Vokabular der Psychoanalyse, das in 25 Sprachen übersetzt wurde und auf Deutsch in der inzwischen 18. Auflage erhältlich ist.


Leben und Werk


Aufgewachsen in der burgundischen Stadt Beaune, hat Jean Laplanche den größten Teil seines Lebens umgeben von Weinbergen auf dem familiären Anwesen »Château de Pommard« und zugleich in Paris, unweit des »Musée de Rodin« und in unmittelbarer Nachbarschaft des »Hôtel Matignon«, verbracht. Er war ein Pendler zwischen dem intellektuellen Paris und der ländlichen Winzerwelt der Bourgogne, zu der er später einen eigenen Wein, den »Château de Pommard«, beisteuerte. Nach Kriegsjahren in der Résistance wird er Mitte der 1940er in die französische Eliteschule »Ecole Normale Supérieure« aufgenommen, in der er u.a. den jungen Michel Foucault kennenlernt. Er absolviert dort die Aggregation in Philosophie bei dem bekannten Hegelspezialisten Jean Hippolyte bei Merleau Ponty und Gaston Bachelard. 1947 beginnt er bei Lacan eine Psychoanalyse und bleibt ihm bis zum Bruch von 1964 verbunden; Lacan hatte damals erfolglos versucht, wieder in die IPA aufgenommen und als Lehranalytiker anerkannt zu werden. Auf Anraten Lacans studiert Laplanche in den 1950ern als Vorstufe zu einer psychoanalytischen Ausbildung Medizin und arbeitet in verschiedenen psychiatrischen Kliniken. Seine Doktorarbeit Hölderlin und die Suche nach dem Vater trägt noch deutlich die Spuren der Lacan'schen Lehre. Seit Anfang der 1960er Jahre unterrichtet er an der Sorbonne, bis er schließlich 1970 Professor an der Pariser Universität »Paris VII« wird und dort sein »Département de Psychanalyse« gründet, an dem psychoanalytische Forschung im universitären Kontext betrieben wird. Seit dieser Zeit leitet Jean Laplanche verschiedene Publikationsfelder der Presse Universitaire de France (PUF) und beginnt dort 1988 als wissenschaftlicher Leiter mit der Übersetzung der Gesammelten Psychoanalytischen Werke Freuds ins Französische, die inzwischen zum Großteil erschienen sind. Bereits 1957 hatte er mit der Übersetzung von Zur Einführung in den Narzißmus die wissenschaftliche Freudübersetzung in Frankreich revolutioniert.

Für seine psychoanalytische Laufbahn markiert das Jahr 1964 einen besonderen Einschnitt: Zusammen mit einer Gruppe von Psychoanalytikern, die sich von Lacan abgewendet hatte (»… weigerten wir uns, ein Ticket ohne Rückfahrschein zu Lacan, nach Lacanien zu lösen«), gründet er die »Association Psychanalytique de Paris« (APF), die noch heute ein Hort intellektueller Psychoanalyse ist. In seiner Arbeit innerhalb dieser Institution, deren Präsident er von 1969–1971 war, hat er sich insbesondere für die Abschaffung der Lehranalyse eingesetzt. Die Analyse, so sein Credo, dürfe keinen äußerlichen Zielen (z.B. dem, Psychoanalytiker zu werden) untergeordnet werden.


Veröffentlichungen

Mit einem Paukenschlag betritt Jean Laplanche nach seinem Hölderlinbuch die psychoanalytische Bühne. Denn sein Aufsatz »Das Unbewusste – eine psychoanalytische Studie« von 1960, zusammen mit seinem langjährigen Freund Serge Leclaire verfasst, diskutiert das von Lacan aufgeworfene Problem der Sprachlichkeit des Unbewussten auf einer danach nur noch selten erreichten Ebene. Der Text markiert zugleich erste Absetzbewegungen vom Denken Lacans, die wenige Jahre später zum endgültigen Bruch führen werden. 1964 folgt einer der schönsten Texte aus jener glorreichen Zeit der strukturalistischen Psychoanalyse, der zusammen mit Jean-Bertrand Pontalis verfasste Aufsatz »Urphantasie, Phantasien über den Ursprung, Ursprünge der Phantasie«, der zugleich ein Dokument jener Epoche darstellt, in der Laplanche und Pontalis zwischen Lacan und Freud, »ihrem« Freud, oszillieren. In jene Zeit fällt zugleich der Beginn der Arbeit an dem bereits erwähnten Vokabular der Psychoanalyse, das auch 45 Jahre nach seiner Ersterscheinung nichts von seiner Begriffsgenauigkeit eingebüßt hat und unüberholt geblieben ist. Ursprünglich als Vortragszyklus in in Quebec gehalten, erscheint 1970 in Buchform Leben und Tod in der Psychoanalyse. Laplanche wirft dort kapitelweise die großen Fragen der Psychoanalyse auf: Wie entsteht die menschliche Sexualität, welche Rolle spielt die Sexualität für den psychischen Konflikt, wie lässt sich das Verhältnis zwischen Ich und Narzissmus bestimmen und wie der Todestrieb, und findet darauf weitreichende Antworten, die nichts von ihrer Gültigkeit verloren haben. Methodisch wird in diesem Buch eindrucksvoll vor Augen geführt, was es bedeutet, als Psychoanalytiker außerhalb des klinischen Settings zu arbeiten: Wie im Traum den Freud'schen Textcorpus zu durchstreifen, ohne etwas auszulassen oder zu bevorzugen, um so die Bruchlinien, Irrwege und Widersprüche im Freud'schen Denken aufzuspüren und sie produktiv zu wenden. Denn Psychoanalyse ist für Laplanche in der Nachfolge Freuds zuvorderst »der Name eines Verfahrens zur Untersuchung seelischer Vorgänge, welche sonst kaum zugänglich sind« (GW XIII, S. 211).

Aus seinen Vorlesungsreihen an der Pariser Universität entstehen in der Folge die sieben großen »Problématiques«, die sich ausführlich und mit großer Liebe zum Freud'schen Buchstaben den zentralen Topoi der Psychoanalyse widmen: der Angst, der Sublimierung, dem Unbewussten, der Sexualität, der Übertragung, der Nachträglichkeit, um nur die wichtigsten zu nennen. Aus dieser geduldigen Freudexegese entsteht schließlich ein Buch, das bereits im Titel den Charakter eines Manifestes trägt: Neue Grundlagen für die Psychoanalyse (1987/dt. 2011) fordert Laplanche, denn es reiche nicht, lokale Veränderungen an der psychoanalytischen Theorie vorzunehmen, es bedürfe vielmehr eines neuen Paradigmas, um Freuds kopernikanische Wende fortzuführen. Weder vor noch nach diesem Buch hat Laplanche noch einmal eine vergleichbare Anstrengung unternommen, den eigenen psychoanalytischen Standpunkt in solch umfassender Weise darzulegen. Geschrieben in der Mitte seines intellektuellen Schaffens sind die Neuen Grundlagen ein Markstein für die Entwicklung seiner Allgemeinen Verführungstheorie, der gleichermaßen die Erkenntnisse der vorangegangenen Arbeiten in sich vereint und die zukünftigen Leitlinien erahnen lässt.

Es folgen drei Aufsatzsammlungen, zunächst Die unvollendete Kopernikanische Revolution in der Psychoanalyse (1992/dt. 2005) mit Aufsätzen aus den Jahren 1967–1992, dann Entre séduction et inspiration: l’homme (Der Mensch zwischen Verführung und Inspiration) mit Aufsätzen aus den Jahren 1992–1999, schließlich Sexual mit Texten zwischen 2000 und 2006. Einige davon wurden bereits ins Deutsche übersetzt und sind insbesondere in der Zeitschrift Psyche, vereinzelt auch im Forum der Psychoanalyse zu finden. In diesen Aufschriftensammlungen wird immer deutlicher, welche Erneuerungen die Allgemeine Verführungstheorie für die Psychoanalyse mit sich führt. Entscheidend dafür ist folgende Prämisse: Es gibt in sexueller Hinsicht zwischen dem Infans und dem erwachsenen Anderen eine radikale Dissymmetrie. Denn in der Verführungssituation konfrontiert der Erwachsene das Kind mit seiner eigenen unbewussten Sexualität in Form von rätselhaften Botschaften, die für das Kind strukturell immer auch unübersetzbar sind. Deshalb hat Laplanche seine Allgemeine Verführungstheorie unter das Primat des Anderen gestellt: wie die Erde um die Sonne, so kreist das Menschenkind ursprünglich um den Anderen und seine rätselhaften Botschaften. Durch diese Entdeckung von der Dezentriertheit der Psyche hat die Psychoanalyse die Kopernikanische Revolution in das Denken vom Menschen eingeführt; freilich ist sie bei Freud unvollendet geblieben. Denn letztlich ist diese Erkenntnis in der psychoanalytischen Theorie wie in der Praxis nur schwer zu ertragen. Sie bedeutet für den Menschen eine Kränkung, auf die er mit einer ptolemäischen Verschließung, einer narzisstischen Rezentrierung antwortet: Die Alterität des Anderen und damit des Unbewussten wird auf eine Variante des Eigenen reduziert (»es ist nichts Fremdes in Dich gefahren«) und schließlich dem erweiterten Seelenapparat als Es, angeborene Triebe, phylogenetisches Erbe usw. einverleibt.

Selbst wenn man der Allgemeinen Verführungstheorie nicht bis in ihre letzten Feinheiten folgen mag, wird man für eine Erneuerung der Psychoanalyse im 21. Jahrhundert an Laplanches Alteritätskonzept vom Unbewussten nicht vorbeikommen. Auf der letztlich einfachen Erkenntnis insistiert zu haben, dass das Unbewusste ursprünglich vom Anderen herkommt, und daraus in geduldiger Wiederholung die Konsequenzen für Theorie und Praxis der Psychoanalyse gezogen zu haben, stellt das bleibende Verdienst seines Werkes dar.

Am Samstag, den 11. Mai 2012, wurde Jean Laplanche auf dem Friedhof seines Heimatortes Pommard im Familiengrab beigesetzt.




Von und über Jean Laplanche erschienen im Psychosozial-Verlag:




 


Jean Laplanche
Neue Grundlagen für die Psychoanalyse
Die Urverführung
EUR 24,90

Jean Laplanche veranschaulicht in diesem Buch in umfassender Weise seinen Weg zur »allgemeinen Verführungstheorie«. In seiner Neubegründung der Psychoanalyse werden die Entstehung des Unbewussten, die Natur des Triebes, aber auch das Wesen der psychoanalytischen Kur miteinander verknüpft. [ mehr ]

Sofort lieferbar.
Lieferzeit (D): 2-3 Werktage

Die unvollendete kopernikanische Revolution in der PsychoanalyseJean Laplanche
Die unvollendete kopernikanische Revolution in der Psychoanalyse
EUR 28,00

Die Aufsätze dieses Bandes zeigen, dass der Gegensatz zwischen einer ›kopernikanischen‹ Tendenz, die den Menschen sich selbst gegenüber dezentriert, und einer ›ptolemäischen‹ Tendenz, die ihn unaufhörlich auf sein Ich rezentriert, in der Psychoanalyse und auch im Denken Freuds gegenwärtig bleibt. Zu behaupten, dass der Mensch ursprünglich um den anderen ›kreist‹ und dass er sich von Kindheit an von einer radikalen Andersheit ausbildet, ist eine Revolution, die es fortzusetzen gilt - von Freud aus und über ihn hinaus. [ mehr ]

Sofort lieferbar.
Lieferzeit (D): 2-3 Werktage

Das Tabu des BegehrensAnna Koellreuter
Das Tabu des Begehrens
Zur Verflüchtigung des Sexuellen in Theorie und Praxis der feministischen Psychoanalyse
EUR 20,50

Stagnationen im Analyseprozess zwischen zwei Frauen weisen auf eine gemeinsame Triebverdrängung hin. Diese Triebverdrängung konstelliert sich in der ersten Frauenbeziehung, nämlich in der frühen Mutter-Tochter-Beziehung, und bleibt bestimmend für alle Frauenbeziehungen – so auch für die weibliche gleichgeschlechtliche Analyse. Mittels Laplancher Theoreme wird der Bogen zur klinischen Praxis gespannt. [ mehr ]

Sofort lieferbar.
Lieferzeit (D): 2-3 Werktage

Jean Laplanche
Die rätselhaften Botschaften des Anderen und ihre Konsequenzen für den Begriff des »Unbewußten« im Rahmen der Allgemeinen Verführungstheorie
Psyche, 2004, 58(9-10), 898-913
EUR 9,99

Sofort lieferbar.
Lieferzeit (D): 2-3 Werktage

Jean Laplanche
Kurze Abhandlung über das Unbewußte
Psyche, 1999, 53(12), 1213-1246
EUR 5,99

Sofort lieferbar.
Lieferzeit (D): 2-3 Werktage

Die Psychoanalyse als Anti-HermeneutikJean Laplanche
Die Psychoanalyse als Anti-Hermeneutik
Psyche, 1998, 52(7), 605-618
EUR 5,99

Sofort lieferbar.
Lieferzeit (D): 2-3 Werktage

Deutung zwischen Determinismus und Hermeneutik. Eine neue FragestellungJean Laplanche
Deutung zwischen Determinismus und Hermeneutik. Eine neue Fragestellung
Psyche, 1992, 46(6), 467-498
EUR 5,99

Sofort lieferbar.
Lieferzeit (D): 2-3 Werktage

Zurück